Einführung zu Rainers Lebenswerk von Prof. Dr. rer. nat. Roland Diehl, Max-Planck-Institut für extraterrestrische Physik (MPE)
Rainers Arbeit zu Raumkonzepten und dem Lernen aus Messungen in der Physik
Rainer verfolgte die Idee, dass „Naturgesetze“ letzlich im menschlichen Denken wurzeln, und entgegen allgemeiner Überzeugung also nicht der Natur durch aufwendige objektive Messungen abgerungen werden. Wesentlicher Gedanke ist, dass die Experimentalphysiker den Mess-Prozess nur in Bezug zu physikalischen Prozessen setzen (und also „invertieren“) können, indem sie dem gestellten Problem eine Möglichkeit abringen, etwas eindeutig messen zu können. Hierbei nutzen sie Eigenschaften des Raumes, in dem das Problem und seine Messung formuliert werden kann. Rainer arbeitete den Gedanken aus, dass hier die Verbindung liegt, indem der Raum durch das menschliche Denken mit problem-geeigneten Eigenschaften versehen wird – das tun sowohl theoretische als auch experimentelle Physiker. Hier folgt Rainer dem späten Wirken von Sir Arthur Eddington. Dieser hatte sich zum Ziel gesetzt, zu zeigen, dass viele experimentelle Bestimmungen von Elementarteilchen-Eigenschaften eigentlich Zeitverschwendung seien, da in Experiment-Aufbau und Datenanalyse die gleichen Denkprozesse und die gleiche Logik einfließen wie in die angeblich zu testende Theorie; damit sei das ein „put up job“. Eddington war der Überzeugung, dass alle der Natur zugeschriebenen Gesetzmäßigkeiten und Phänomene rein durch epistemologische Überlegungen gefunden werden könnten. Rainer teilte diese Überzeugung.
Mit solchen Raum-Eigenschaften allein, losgelöst von spezifischen Physik-Problemen, da kennen sich Mathematiker bestens aus. Rainer liebte die Mathematik und er empfand eine tiefe Bewunderung für die Eleganz, mit der komplizierte Sachverhalte sich mithilfe algebraischer Umformungen z. B. in Tensor-Algebra dem Betrachter erschlossen. Ich habe oft und lange mit ihm gerungen darum, ohne hinreichendes Training und Gewöhnung an derartige Umformungen diese Schlüsse spontan anzunehmen. Allzu groß war meine Ehrfurcht vor Fallstricken im Jonglieren mit ko- und kontravarianten Indizes, immer misstrauisch, einen kleinen Flüchtigkeitsfehler mit großer Wirkung übersehen zu haben. Rainer half mir geduldig, das Zwingende in der Logik der konsistent formulierten und angewandten Tensor-Algebra in mehrdimensionalen Räumen zu erkennen und anzunehmen. Seine leuchtenden Heroen waren Hermann Weyl und Élie Cartan und deren Diskussionen von Räumen unendlich vieler komplexwertiger Dimensionen und den darin möglichen Symmetrie-Operationen trotz unvertrauter nicht-euklidischer Metriken und damit nur lokal gegebener Raumkrümmung. Rainer war fasziniert davon, dass all dies rein dem menschlichen Denken entsprungen war, und strebte danach, dies mit den Messungen experimenteller Physik in Verbindung zu bringen. Denn als junger theoretischer Physiker hatte Rainer ein einschneidendes Erlebnis: Er konnte das anomale magnetische Moment eines Elektrons alleine unter konsequenter Anwendung algebraischer Umformungen aus der theoretisch formulierten Quantenfeld-Theorie ausrechnen, und zwar mit einer Präzision, die besser war als eine aufwendige Messung im Schweizer Teilchenlabor CERN unter Aufbietung aller technologischen und experimentalphysikalischen Expertise!
In dieser, seiner letzten Arbeit, die den Höhepunkt und die Kristallisation der beschriebenen Überzeugung darlegen sollte, kämpfte Rainer mit der allumfassenden Breite seines Ansatzes in Bezug auf die von ihm so geliebte theoretische Physik: Es fiel schwer, unter den vielen Beispielen auszuwählen, anhand derer er seinen (und Eddingtons) Grundgedanken illustrieren wollte.
Rainer beginnt diese Arbeit mit seiner geliebten Relativitätstheorie, anhand derer sich leicht die Bedeutung eines gedanklichen Konzeptes des dreidimensionalen Raums für die darin zu beschreibenden Phänomene und die dahinterliegenden physikalischen Gesetzmäßigkeiten illustriert. Da dieser Raum durch darin befindliche Massen quasi verbogen wird, müssen die Beschreibungen der Physik in solchen gekrümmten Räumen darin erfolgen, woraus dann für uns und unser normales Denken in der Anschauung eines euklidisch-flachen Raumes exotische Phänomene wie z. B. schwarze Löcher resultieren.
Im folgenden Kapitel zeigt Rainer dann triumphierend, wie ein Aufspannen des Raumes nach rein mathematischen Überlegungen schon vor fast 100 Jahren den Mathematiker Élie Cartan dazu brachte, Symmetrien und Gesetzmäßigkeiten in diesem Raum der Spinoren zu beschreiben, die bis in Details den aus Experiment und theoretischer Physik gewonnenen Elementarteilchen-Familien der Quanten-Chromo-Dynamik gleichen. Rainer triumphiert: Es ist unser Denken, das diese Konstrukte der Spinoren und also andererseits die als elementar beschriebenen Teilchen hervorbringt! Auch für Elektromagnetismus und Quantenmechanik zeigt Rainer in zwei kürzeren Kapiteln, dass mit den geeigneten Identifikationen bestimmter physikalisch plausibler Größen mit Operatoren der Tensor-Algebra klare Entsprechungen dieser doch so physikalisch begründeten Theorien in der puren Mathematik bestehen. Rainer widmet sich hier insbesondere der Herausforderung, eine Möglichkeit des Messens in den unterschiedlichen Problembereichen und ihrer zugeordneten Räume zu finden.
In fünf weiteren Kapiteln widmet sich Rainer dann unterschiedlichen Aspekten physikalischer Theorien und zeigt, dass etliche der Physik und ihrem Streben nach Beschreibung von Gesetzen der Natur originär zugewiesenen Erkenntnisse im Licht der Mathematik sehr allgemein beschriebener gekrümmter Räume oft auf überraschende Weise hervortreten, ohne dass eine physikalische Natur bemüht werden müsste. So führt er die ko- und kontravarianten Darstellungen in solchen Räumen in Kapitel 6 detailliert vor, zeigt in Kapitel 7 wie nahe Relativitätstheorie und Quantenmechanik verwandt sind, und widerlegt in Kapitel 8 den Glauben, dass Quanten-Elektrodynamik eine Theorie der Quantisierung sei.
Kapitel 9 und 10 schließen den Kreis, indem nun die Elementarteilchen-Theorie aus der allgemeinen Relativitätstheorie und ihrem beliebig lokal gekrümmten Raum allein mit Hilfe Cartan’scher Raum-Diagnostik und der dabei auftretenden Spinoren entwickelt wird, indem man geeignete Identifikationen der Teilchen vornimmt. Hier kann Rainer das Vorkommen sogenannter virtueller Teilchen und Anti-Teilchen elegant aus der Mathematik folgern. Daher kann Rainer abschließend auch den Bogen schlagen von Eddingtons „Es gibt keine zu erschließenden Naturgeheimnisse, die Entdeckung eines Gravitationsgesetzes ist ein Beispiel eines Problems, dessen Lösung von vorneherein in den Lösungsansatz hineingesteckt wurde“ zu Kant’scher Philosophie: „Der Verstand schöpft seine Gesetze nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor.“
Rainer betonte aber auch stets, dass dies nicht die physikalische Forschung infrage stellt oder gar entwertet: In der Beschäftigung mit diversen physikalischen Phänomenen haben Wissenschaftler das Denken in derart große Höhen emporgearbeitet, so dass abstraktere Konzepte entwickelt wurden und zu Anwendungen in analogen Problemsituationen geführt wurden. Diesen Entwcklungen entsprangen dann etliche technologische Errungenschaften unseres modernen Lebens – ein „Nebenprodukt“, ebenso wie die Diskurse, die unser kulturelles Leben und die moderne Philosophie ausmachen. Rainers Beschäftigung mit chinesischem Denken hat ihm einen derartigen Perspektiv-Wechsel erleichtert, da dort viele dem westlichen Denken so verhaftete Scheidungen wie Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft oder Verben und Substantive nicht in analoger Weise vorhanden sind – eine Chance für kreatives Denken.
Manuskript „The Inversion of Measurement. The pivotal role of space concepts in physics“ (PDF)